Der Wald liebt das Chaos – Chaos im Wald ist gut für die Biodiversität

Blätter und Tannennadeln bedecken den Waldboden. An lichten Stellen wachsen wild zerstreut Pflanzen. Mittendrin liegt ein toter Baum, umgeben von jungen, alten, hohen, kleinen Bäumen verschiedenster Arten. Was nach Chaos klingt und in den Augen vieler Menschen aufgeräumt werden müsste, kommt der Natur zugute und ist wichtig für das Gleichgewicht des Waldes.

100 Bäume ein und derselben Art, alle etwa im gleichen Alter, in Reihen angepflanzt, kaum andere Pflanzen oder Reste älterer Bäume dazwischen. Was früher als perfekte und wirtschaftliche Waldplanung galt, ist in Wahrheit für die Natur alles andere als ideal. Die Natur braucht Vielfalt. Mögen Tiere wie Rehe die Triebe junger Bäume am liebsten, brauchen Schwarzspechte knorrige alte oder absterbende Bäume (sogenannte Biotopbäume), Hirschkäfer hingegen bereits totes Holz. Die riesige Artenvielfalt der Pflanzen, Tiere und Pilze konnte nur entstehen, da sich die einzelnen Arten auf verschiedenste Lebensräume und
-bedingungen spezialisiert haben.

Alles andere als tot: Unzählige Tier-, Pflanzen- und Pilzarten leben in und um Totholz im Wald. (Foto: Markus Bolliger/BAFU)

Totholz stärkt Biodiversität

Der Umgang mit Totholz hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten stark verändert. Wurde es früher schnell aus dem Wald entfernt, werden abgestorbene Bäume oder Baumteile heute absichtlich liegen oder stehen gelassen. Der Wert von Totholz für den natürlichen Waldzyklus ist weitherum bekannt. Totholz ist die zentrale Lebensgrundlage für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, die wiederum Nahrung für andere sind. Insbesondere Stürme, Pilze oder Insekten wie Borkenkäfer bringen Bäume zum Absterben und liefern so Nachschub an Totholz. Auch gezielte menschliche Eingriffe beeinflussen die Totholzmenge.

Die Zersetzung von Totholz dauert mehrere Jahre. Je nach Abbauphase sind andere Insekten, Pilze und weitere Organismen beteiligt: von sogenannten Pionierinsekten bis hin zu Mikroorganismen, die aus dem Boden ins schon stark verfaulte Holz eindringen. (Quelle: DACHCOM)

Chancen und Gefahren von Totholz

Der Wert von Totholz für die Biodiversität ist sehr hoch. Daneben erbringt Totholz auch eine Reihe weiterer Leistungen. In feuchten Gebirgswäldern spielt es eine wichtige Rolle bei der Waldverjüngung und schützt auch vor Naturgefahren wie Bodenerosion, Lawinen oder Steinschlag. Zudem speichert es Kohlenstoff und Wasser, was für das Klima in Wäldern wichtig ist. Ist Totholz schliesslich zu Humus umgewandelt, hilft es auch der Fruchtbarkeit der Waldböden. Auf der anderen Seite kann Totholz auch Gefahren mit sich bringen. In trockenen Gebieten erhöht es die Brandgefahr. Herunterfallende Äste toter Bäume können zudem Waldspaziergängerinnen und -spaziergänger sowie Waldarbeiterinnen und -arbeiter gefährden. Es gilt also, im Umfeld von Totholz vorsichtig zu sein.

Für Wälder mit vielfältigem Leben ist Totholz sehr wichtig. Waldspaziergänger und Waldarbeiter sollten im Umfeld von Totholz aber vorsichtig sein, da Äste oder andere Baumteile herunterfallen können. (Foto: Markus Bolliger/BAFU)

Chaos am Waldrand

Chaotisch darf es nicht nur im Wald selber, sondern auch an den Waldrändern sein. Vielerorts gibt es heute einen abrupten Wechsel zwischen Waldrändern mit hohen Bäumen und den Wiesen davor. Gestufte Waldränder mit Sträuchern und Bäumen in verschiedenem Alter schaffen weniger starre Grenzen. Das stärkt diesen wichtigen Lebensraum und somit die Biodiversität. Viele Lebewesen und Pflanzen brauchen eine solch abwechslungsreiche Umgebung und kommen darum hauptsächlich an Waldrändern vor. Zudem nimmt der Druck auf viele Tiere in angrenzenden Lebensräumen, beispielsweise Felder oder Äcker, laufend zu. Viele von ihnen suchen darum an Waldrändern Zuflucht.

Waldränder mit verschiedenen Stufen sind wichtig für die Biodiversität. Diverse krautige Pflanzen und Sträucher sowie Bäume in unterschiedlichem Alter schaffen Waldränder, an denen verschiedenste Tiere ein Zuhause finden. (Quelle: ZHAW, 2017)

Natur pur in Waldreservaten

Niemand weiss so gut, was die Natur braucht, wie die Natur selber. Aus diesem Grund werden vermehrt Waldreservate angelegt. 6,3 % der Schweizer Waldfläche sind heute als Waldreservate ausgeschieden – bis 2030 sollen es insgesamt 10 % werden. In Naturwaldreservaten hat die Natur das Sagen und es wird komplett auf forstliche Eingriffe verzichtet. In Sonderwaldreservaten erfolgen Eingriffe gezielt, um bedrohte Arten zu fördern. Dabei werden beispielsweise einzelne Bäume gefällt, damit die Sonne bis auf den Boden scheinen kann und dadurch wärmeliebende Arten begünstigt werden. Reservate gelten als wirkungsvolles Instrument für die Erhaltung der Biodiversität. Um ihre Wirkung entfalten zu können, werden sie über lange Zeit, mindestens für mehrere Jahrzehnte, angelegt.